Grenzkulturweg Rodersdorf
Dass Grenzsteine alles andere als langweilig sind, zeigt der Grenz-Kultur-Weg in Rodersdorf. Sie stellen hier nicht nur die Frage nach der Wirklich- und Sinnhaftigkeit einer Grenze. Ihre Gestaltungsdetails erzählen zudem vom Verständnis nationaler Identität im Verlauf von zwei Jahrhunderten. Und dann gibt es noch weitere Besonderheiten.
Ich bin froh, dass ich mir vor Aufbruch den Grenz-Kultur-Weg um Rodersdorf herum zunächst ‹trocken› erarbeitet habe. Anhand des Verlaufs und der Fotos von Grenzsteinen orientierte ich mich über das, was mich erwartet und was mich besonderes interessiert. Denn die Webseite des Grenz-Kultur-Wegs bereitete mich darauf vor, dass man hier stundenlang unterwegs sein kann. Ich wähle daher das E-Bike als Verkehrsmittel, um gezielt anfahren zu können, was ich sehen möchte, ohne den ganzen Weg zu erwandern.
Ich beginne vor dem Ort Biederthal. Da steht ein ziemlich klassischer Grenzstein. Dank der Vorplanung achte ich auf seine Oberseite. Dort ist, wie erwartet, etwas eingemeisselt: Ich erkenne einen fast rechtwinkligen Haken. Auf einer Seite steht der Buchstabe ‹S› (für die Schweizer Seite – hier sieht der Winkel wie die Zeitangabe ‹Viertel nach Zwölf Uhr› aus), auf einer anderen ein ‹F› (für Frankreich – hier sieht der Winkel wie die Zeitangabe ‹Viertel vor Sechs Uhr› aus). Ich dachte bis anhin, ein Grenzstein sei einfach ein Grenzstein. Aber dass er auch noch den Grenzverlauf zusätzlich zu seiner Position mit einem Winkel genau markiert, das hatte ich nicht gewusst. Ich wusste auch nicht, dass Grenzsteine durchnummeriert werden. Dieser hier hat die Nummer 103. (Später stosse ich in Flüh auf Grenzsteine, etwa auf Grenzstein Nummer 7.)
Einen Steinwurf weiter sehe ich einen Grenzstein mitten auf dem Feld. Ich ahne, dass mich noch allerlei Kuriositäten auf diesem Ausflug erwarten werden. Und tatsächlich: Noch an der Grenze zu Biederthal fühle ich mich irgendwie beobachtet. Es ist ein rotäugiges Wesen aus Holz, eine Grenzwächterin? Etwas weiter folgt entlang einer einfachen Strasse auf Sichtweite von wenigen Dutzend Metern Abstand Grenzstein auf Grenzstein. Erstaunlich: Warum stehen sie so dicht, nahezu auf einer Linie? Ist man hier pingelig, was den Grenzverlauf betrifft? Und nicht nur hier, sondern an manchen Stellen dieses besonderen Grenzverlaufs. Rodersdorf grenzt ja an die französischen Gemeinden Leymen, Liebenswiller, Oltingue und Biederthal und teilt mit ihnen laut Gemeinde-Webseite rund 90 Prozent seiner Gemeindegrenze. Warum die Steine teils so dicht stehen, selbst da, wo der Grenzverlauf klar auf einer Linie zu liegen scheint, darauf gibt es hier keine Antwort.
Zu den besonderen Grenzsteinen gehört derjenige am Rande des Waldreservats Mösli mit der Nummer 75. Auf seiner Oberseite ist ein Winkel von ungefähr 22 Grad eingekerbt.
Zwei Höhepunkte haben nichts mit einem Grenzstein zu tun. Gegenüber von Grenzstein Nummer 65/2 führt ein Weg kontinuierlich aufwärts. Hier komme ich an der ‹Grossen Buche von Rodersdorf› vorbei. Sie sei, so das undatierte Schild, die grösste im Kanton Solothurn – mit einer Höhe von 40 Metern und einen Umfang von 4,87 Metern. Der Weg führt weiter oben über links zur Kapelle St. Brice auf französischer Seite. Sie weist aktuelle Bauelemente aus dem 18. Jahrhundert auf; Spuren führen weiter zurück ins 14. Jahrhundert.
Auf den Wegen zu den ausgewählten Grenzsteinen habe ich immer wieder Weitblicke in die Landschaft – etwa zur Landskron –, komme an einem Reiterhof und Weinbergen vorbei, der Strängenbach und der Birsig fliessen hier, ich passiere die Anlage von Familiengärten. Rodersdorf, so mein Eindruck, bietet viel. Und der Grenz-Kultur-Weg bietet viele Freiheiten, ihn für sich selbst zu erobern.
Auf der Rückfahrt finde ich noch eine Besonderheit. Der Grenz-Kultur-Weg war einmal auch als Skulpturenweg gedacht. Peter Matzinger hat hinter Grenzstein Nummer 107 aus dem Jahr 1817 eine Installation geschaffen. Sie sieht über den Zugang von unten wie der Rinnsal einer Quelle aus, erweist sich beim Näherkommen als hellblau angestrichene Stufen einer Treppe, der Grenz-Himmels-Treppe. Die Witterung ist hier tüchtig am Werk, doch ist die Idee des geschwungenen Weges 2024 noch gut zu erkennen.
Ich empfehle – besonders vom Morgentau oder nach Regen – gutes Schuhwerk, da die Wege dann feucht und erdig sind.
Weitere Ziele in Rodersdorf
Hirschen-Skulptur
Storchennest
Relief an der Kirche von Rodersdorf
Text und Fotos: Sebastian Jüngel